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Montag, 28. November 2011

"Wer Hexe ist..." - Rezension

Wer-Hexe-ist


Rivkas Rezension vom Sommer 2005:

Oliver Ohanecian: Wer Hexe ist, bestimme ich - Zur Konstruktion von Wirklichkeit im Wicca-Kult. EB-Verlag, Hamburg 2005 http://www.amazon.de/Wer-Hexe-ist-bestimme-ich/dp/3936912386/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1214341785&sr=8-1

Die andauernde und kontroverse Diskussion des Buches mit dem provozierenden Titel in der Wicca-Szene beweist, wie das Aufeinandertreffen verschiedener Sichtweisen – hier die induktiv-wissenschaftliche des Ethnologen Ohanecian und dort die deduktiv-religiöse des Wicca-Kultes – zu Missverständnissen führen kann: Obwohl es so rezipiert worden ist, richtet sich Ohanecians Buch nicht gegen die Hexenszene. Es berichtet vielmehr über sie, und zwar vom Standpunkt des Radikalen Konstruktivismus, der die Frage nach wahr oder unwahr, richtig oder falsch als nicht beantwortbar betrachtet und sich alleine um die Viabilität, die (Über-)Lebensfähigkeit einer Wirklichkeitskonstruktion also, kümmert.

Indem Ohanecian über die Wirklichkeit des Wicca berichtet, re-konstruiert er sie auf Grund der Informationen, die ihm Wicca zur Verfügung stellt; indem er sie rekonstruiert, entlarvt er die vorgefundene Konstruktion durch die Verwendung ihrer Bausteine.
Die vorgefundene Konstruktion ist die der Gründerväter und –mütter des Wicca, die Ohanecian summarisch vorstellt. Diese Konstruktion des Wicca-Kultes durch Gardner, Sanders und Crowley (um nur ein paar Namen zu nennen) ist von Anfang an eine schriftliche, publizierbare, reproduzierbare gewesen: Was Wicca ist, impliziert Ohanecian, sei nachzulesen.
Was allerdings nachzulesen sei, widerspreche der Tatsache, dass es nachzulesen sei. Wicca sei nämlich, im eigenen, verschriftlichten Verständnis, ein Mysterienkult (dass der Autor ihm nicht die Bezeichnung „Religion“ zukommen lassen will, wird einsichtig begründet, bleibt aber disputierbar), also eine (Ur-)Religion der mündlichen Überlieferung, ein europäisch-indigener Schamanismus und keinesfalls, so lehren die Bücher, eine Buch- oder Schriftreligion.

Obwohl also Inhalte und Formalia des Kultes – das Buch der Schatten, die Organisation der Coven, die Initiationsriten, die Jahrkreisfeste – in umfangreichster Literatur mit nur sehr kleinen Abweichungen immer wieder geschrieben und beschrieben wurden (Ohanecian gibt einen Überblick) wird die Existenz eines grundlegenden, verbindenden Kanons von den Anhängern des Wicca vehement bestritten, die Idee einer gemeinsamen Grundlage oder verpflichtenden Regel vehement abgelehnt. (Eine Ausnahme bildet vielleicht die berühmte goldene Regel „Tu was du willst und schade niemanden“, obwohl auch diese der persönlichen Sichtweise des Einzelnen unterworfen bleibt.)

Wicca, so der Autor, verweigere sich, wo es nicht im Buche stehe, der Definition – und dies gelte selbst für den unabdingbarsten aller Begriffe, den der „Hexe“.
Die Folge dieser Verweigerung sei eine intendierte Ungreifbarkeit des „Mysterienkults“, die sich als Mystifikation einer inhaltlichen Leere darstelle, in welcher denn auch sein eigentliches und einziges Geheimnis bestünde.


Fassen wir an dieser Stelle zusammen
Erstens: Wicca konstruiert die Wirklichkeit eines auf mündlicher Überlieferung beruhenden, nur durch Initiation zugänglichen Mysterienkultes von Anfang an auf der Basis von Verschriftlichung und Medialität, durch Belletristik, Sachbücher und Fernsehsendungen.

Zweitens: Wicca konstruiert unter einer gemeinsamen Bezeichnung und durch kontinuierliche Veröffentlichungen ganz offensichtlich gemeinsame und verbindliche Grundlagen, deren Vorhandensein das Wicca-Individuum, wie Ohanecian in seinen persönlichen und Internetkontakten feststellt, jedoch vehement bestreitet und damit wieder dekonstruiert.

Drittens: Diesem Prinzip von Konstruktion und Dekonstruktion, von Behauptung und Verleugnung folgt auch die historische (Selbst-)Verortung des Wicca: Obwohl dessen Anhänger in den westlichen Industrienationen ausnahmslos, eben als Mitglieder dieser Nationen, deren weltliche und religiöse Geschichte teilen, wird von den Wicca-Anhängern mehrheitlich diese Teilhabe geleugnet. Vom fiktiven Ursprung her beheimatet in prähistorischer oder wenigstens vorchristlicher Zeit, konstruiert Wicca eine Gegenwart und Gegenwelt in einem fiktiven, zeitlosen Lebensraum fiktiver historischer, sozialer und politischer Verantwortungslosigkeit, wenn nicht Unschuld.

So dient die Ablehnung des Christentums (und der anderen monotheistischen Religionen) samt seinen politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von den Hexenverbrennungen bis zur Umweltzerstörung eher der Selbstdefinition als Opfer (und damit der Exkulpierung), als dass sie auf konstruktive Kritik und Verbesserung der Verhältnisse zielte.

Geschichte und Gegenwart der eigenen Gesellschaft negierend, konstruiert Wicca Wirklichkeit lediglich als Gegen-Wirklichkeit, wodurch, Ohanecian zu Folge, weder eine Ablösung von der vorgefundenen Realität gelinge, noch eine Veränderung oder gar ein alternativer Entwurf.


Fassen wir nochmals zusammen
Viertens: Wicca negiert die Teilhabe an der Wirklichkeitskonstruktion der Industrienationen, deren Symptom es ist. Durch diese Negation beraubt sich der „magische Mensch“ des Wicca, die Hexe, jeder Macht und Handlungsmöglichkeit innerhalb der eigenen, historisch und religiös bedingten Umwelt. Diese reale Machtlosigkeit innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion wird in der Wirklichkeitskonstruktion des Wicca eine magisch-imaginäre Macht gegenübergestellt, um das Ohnmachtsgefühl des Individuums zu kompensieren.

Fünftens: Jede Wirklichkeitskonstruktion die, wie Wicca, auf Negation beruht, bindet an das Negierte. Die Selbstrezeption als freies Individuum („Hexe“) erweist sich als illusionär.

Durch die Verleugnung der eigenen geschichtlichen Herkunft und der De-facto-Teilhabe an der industrialisierten, globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, deren Bürger die Wicca sind, und durch die Aneignung der Geschichte(n), Religionen und der Spiritualität örtlich oder zeitlich entfernter Ethnien (Indianer, Kelten, germanische, ägyptische, griechische Pantheone) entstehen Spaltungen in der Wirklichkeitskonstruktion des Wicca, Trennungslinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden.

Dem positiven Eigenen einer heidnischen, naturverbundenen, magischen Welt, deren Teil und Priester/in man ist, steht die negative fremde, die christliche, umweltzerstörende, technokratische Welt gegenüber, deren Teil zu sein man verleugnet. Dem positiven Fremden, den „ursprünglichen“ indigenen Völkern und alten Kulturen, die zwar nicht erreichbar sind, denen man sich aber zugehörig fühlt, steht ein negatives Fremdes entgegen, die eigene Zeit und die eigene Kultur nämlich, als deren „Mit-Täter“ man sich nicht sehen mag und in der dem Wicca-Individuum in Folge dessen nur der Opfer-Status (in der Nachfolge der Opfer der Hexenverbrennungen) zulässig zu sein scheint. Daraus ergibt sich

Sechstens: Eine Wirklichkeitskonstruktion, die auf der Dichotomie zwischen einem positiven und einem negativen Fremden beruht, fördert spirituellen Diebstahl eher als spirituelle Entwicklung und impliziert die Gefahr der Entfremdung und Handlungsunfähigkeit. Schließlich

Siebtens: und letztens ergibt sich eine Kontradiktion im Wirklichkeitsmodell „Wicca“ durch den Anspruch, „das Individuelle über das Allgemeine“ zu stellen, wie Ohanecian einen Wicca-Anhänger zitiert.

Dass auch und gerade dieser Anspruch, der Fundamentalste im Wicca, ein paradoxer und mithin nicht einlösbar ist, ist evident: Wo das Individuum sich in absolutistischer Weise die Definitionsmacht vorbehält, kann es keine tragfähige Gruppe, keine gemeinsame spirituelle Entwicklung, keine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion von Beständigkeit geben: die Frage nach der Viabilität des Wicca-Kultes, die der Autor am Anfang des Buches stellt, beantwortet er am Ende, gut begründet, negativ.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Autor eine Desillusionierung zu verarbeiten hat: Seine Berichte von informellen Treffen, einem Ritual und dem Treffen europäischer Wicca (PEWC) illustrieren sowohl sein persönliches Engagement als auch seine positiven Erwartungen und schließlich seine Enttäuschung über die real existierenden Erlebnisse und (spirituellen) Ergebnisse, die eine auf Paradoxien, Negation, Mystifikation und kompensatorischem Individualismus beruhende Wirklichkeitskonstruktion zeitigen kann.

Mit dem Hinweis darauf, dass Wicca als potenziell positiv-postmoderne, aber widerständige Religion, Philosophie und spirituelle Lebensweise auch andere, zukunftsfähigere und –schaffende Möglichkeiten bieten könnte, schließt der Autor sein lesenswertes Buch, das mit neuen Perspektiven und spannender Darstellung fesselt und in das der Autor sich jederzeit, sozusagen als Teil seiner eigenen Wirklichkeitskonstruktion, mit einbezieht.

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